Die größte Herausforderung liegt in einer Gefährdung des wissenschaftlichen Ethos. Diese Herausforderung werden wir nicht als Gegenstand politischer Auseinandersetzung erleben. Die Gefährdung findet vielmehr in der Existenz der zahlreichen Ethik-Kommissionen und Ethik-Räte einen gewissen institutionellen Widerhall, aber sie ist mit dem amtlichen Statuieren ethischer Grundsätze allein nicht aufzuhalten.
Die Rolle der Ethik-Kommissionen
Ob und wie denn solche Grundsätze denkbar sind, wäre ja erst noch die Frage. Verhaltenskodizes, Compliance-Bekenntnisse, Best-Practice-Papiere und Hochglanz-Leitbilder ersetzen die Antwort schon deshalb nicht, weil sie die Grundsatzfrage nach der Existenz ethischer Grundsätze gar nicht stellen. Oft genug erschöpfen sich die Berichte und Empfehlungen der öffentlichen Ethik- Einrichtungen in praktischen Ratschlägen, die das Niveau banaler Vereinsregeln kaum erreichen. Ethik in der Wissenschaft verlangt nach mehr: nach einer Reflexion des Ethik-Begriffs unter den Bedingungen einer entmystifizierten Wissenschaft, nach methodischer Stringenz und inhaltlicher Konsistenz und erst dann nach praktischen Verhaltensanweisungen.
Nur so ist Ethik in der Wissenschaft vorstellbar, nur als wissenschaftlich fundierte Ethik vermag sie in der Wissenschaft Akzeptanz zu finden und Orientierung zu geben. Verstehen Sie mich nicht falsch: Mir geht es nicht darum, die Arbeit der Ethik-Kommissionen oder die ihrer Mitglieder zu kritisieren. Kritik verdienen die erteilten Aufträge und Einsetzungsbeschlüsse. Die kollegiale Zusammensetzung der Kommissionen soll wissenschaftliche und gesellschaftliche Vielfalt abbilden, aber ist Ethik ein Produkt von gesellschaftlichen Mehrheitsüberzeugungen? Ihr gesammelter Sachverstand soll für ethische Autorität bürgen, aber dienen die Kommissionen letztlich nicht doch nur dem politischen System als Legitimationsersatz? In einzelnen Fällen sollen die Kommissionen nur, oder wie es auch heißt: "vornehmlich", auf einem besonders ethikrelevanten Feld, namentlich den Lebenswissenschaften, tätig sein. Aber verkommt mit dieser Einschränkung nicht die Arbeit des Gremiums zum Ethik-Service des Fachgesetzgebers? Die Ethik-Kommissionen soll und wird es weiterhin geben - hoffentlich. Hoffentlich reift aber auch die Erkenntnis, dass sie alleine der zunehmenden Gefährdung des wissenschaftlichen Ethos nicht Einhalt gebieten können. Dazu ist mehr erforderlich. Um dieser Gefährdung zu begegnen, sind wir alle gefordert.
Fehlendes ethisches Bewusstsein
Dass eine gefährliche Schieflage entsteht, Veränderungen im Gange sind, offenbart sich durchaus öffentlichkeitswirksam schon im vereinzelten Fehlverhalten einzelner Wissenschaftler, die auf betrügerische Weise nach wissenschaftlichem Glanz ohne wissenschaftliche Tiefe streben. Plagiate, Datenmanipulationen und Titelhandel sind die traurigen Stichworte, die als Schlagzeilen ins Auge springen. Der Wandel zeigt sich aber auch mittelbar im beruflichen Verhalten von Absolventen, die eine wissenschaftliche Sozialisation erlebt haben.
Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise wissen wir von gierigen Managern, denen ein ethisches Bewusstsein nicht abhanden kommen konnte, weil sie es nie hatten. Wir hören von britischen Ärzten, die sich von Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch für jede künstliche Befruchtung mit einer Eizelle bezahlen lassen, die sie dann für Klon-Experimente verwenden. Sie alle sind wissenschaftlich ausgebildet. Wir müssen uns mit kommerziellen "Promotionsberatern" auseinandersetzen, die in einer juristischen Grauzone, oft genug aber auch schlichtweg illegal, ihr Unwesen treiben. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.